Der Ostschweizer Verein «OstSinn» möchte Menschen mit Ideen zum Thema Nachhaltigkeit begleiten und unterstützen. Man spricht hierbei von Zukunfsmacherinnen und -machern. Was es damit auf sich hat, erklärt Vorstandsmitglied Clara Esteve im Interview.
Clara Esteve, «OstSinn» bezeichnet sich als Plattform für Nachhaltigkeit in der Ostschweiz. Man fördere Zukunftsmacherinnen und -macher. Kreisen wir das Thema von aussen nach innen ein: wie stark ist die Ostschweiz allgemein unterwegs, wenn es um Nachhaltigkeit geht?
Die Ostschweiz ist seit ein paar Jahren in Bewegung: es sind viele Projekte und Initiativen entstanden. Viele davon wurden von der Zivilgesellschaft lanciert, oftmals von denselben Personen. Die Organisationen und Unternehmen ziehen jedoch inzwischen nach.
Nur um einige Beispiele zu nennen:
- Im Bildungsbereich ist man seit ein paar Jahren sehr aktiv. So wird beispielsweise das Thema Nachhaltigkeit an Hochschulen, Universitäten und Schulen immer öfter im Lehrplan integriert.
- Die Stadt St. Gallen: Sie möchte bis zum Jahr 2050 klimaneutral werden. Sie übernimmt somit die Zielsetzung des Bundesrats. Im Dezember 2020 hat der Kantonsrat sodann das Energiekonzept 2021-2030 gutgeheissen. Es sind verschiedene Massnahmen in den Bereichen Gebäude, Verkehr und Wirtschaft geplant. Für die erfolgreiche Erreichung der Massnahmen braucht es die Unterstützung der Privatpersonen und Unternehmen. Im Bereich Energie ist die Stadt auf sehr gutem Weg. Bei dem Thema Konsum gibt es sicherlich noch Raum nach oben. Eine nennenswerte Gemeinde aus der Umgebung ist Lichtensteig. Hier setzt man sich seit längerer Zeit aktiv für das Thema Nachhaltigkeit ein, zum Beispiel in dem lokale Initiativen aktiv gefördert werden.
- Im Bereich Wohnen bewegt sich einiges. Es findet ein Umdenken statt, das Taten zur Folge hat. Dies führt zu Sanierungen und Umstellungen auf CO2-arme Wärme- und Energieversorgung. In diesem Bereich gibt es Potenzial für die Politik, in dem sie mit finanziellen Anreizen nachhaltiges Wohnen fördert.
Insgesamt befindet sich die Ostschweiz im Mittelfeld im Vergleich zur restlichen Schweiz.
Wo konkret sehen Sie den grössten Nachholbedarf?
In der grossen Masse der Privatwirtschaft wird dem Thema noch wenig Beachtung geschenkt. Dafür gibt es verschiedene mögliche Erklärungen: die Nachhaltigkeit ist vom allgemeinen Verständnis eng verbunden mit dem Umweltschutz und dieser mit der grünen und linken Politik und weniger mit bürgerlichen Themen. Somit fühlt man sich allenfalls aktuell als Unternehmen weniger angesprochen. Aber auch offene Fragen können hinderlich für eine nachhaltige Unternehmenspolitik sein: was genau kann ich in meinem Unternehmen ändern, um nachhaltiger zu wirtschaften? Inwiefern ist es für mich als Unternehmen wichtig oder gewinnbringend mich aktiv im Thema Nachhaltigkeit zu engagieren? Zudem ist man allenfalls noch stark mit der Digitalisierung beschäftigt.
Bei den Konsumentinnen und Konsumenten wird das Thema immer präsenter und deshalb ist es nicht erstaunlich, dass konsumbezogene Unternehmen oder Herstellende dem Thema bereits jetzt viel Aufmerksamkeit widmen. Man denke an die Migros Kampagne Veganuary, das immer breitere Angebot an veganen und nachhaltigen Lebensmittel bei Coop, Migros, Lidl. Aber auch im Bereich Putzmittel und Waschmittel sowie Kosmetika kann eine Entwicklung in Richtung Nachhaltigkeit aufgezeigt werden. Nicht nur konsumbezogene Güter sollen nachhaltig sein, auch das gesamte Unternehmen soll klimaneutral und /oder Netto-Null wirtschaften. Beispielsweise die Swisscom und Migros haben bereits Masterpläne dafür entwickelt. Nicht zu vergessen ist die Startup-Szene und Kleinunternehmer. Aus dem Raum St. Gallen können exemplarisch folgende Unternehmen aufgeführt werden: «ganz Ohni», «Formidable Pelikan», Second Hand wie «Fizzen» oder «Paradiesli», die ihren Schwerpunkt auf das Thema Nachhaltigkeit setzen.
Neben den Umweltthemen sollten aber auch die sozialen Herausforderungen nicht vergessen gehen. Nachhaltigkeit ist immer umfassend: mitgedacht werden soll also nicht nur die Umwelt, sonder auch das Soziale und die Wirtschaft.
Was gab dereinst den Ausschlag zur Gründung des Vereins?
Im Jahr 2008 war das Thema Nachhaltigkeit in der Ostschweiz im Unterschied zu anderen Regionen der Schweiz oder der Bodenseeregion noch kaum präsent. StefanTittmann, Mitgründer des Vereins, wollte dem entgegenwirken und einen «Raum für mehr» schaffen. Somit ist mit OstSinn einer der ersten Coworking-Spaces in der Ostschweiz entstanden. Die Idee: Raum, Zeit und Netzwerke anzubieten, um Nachhaltigkeit, damals noch unter dem Stichwort «Enkeltauglichkeit» zu verwirklichen.
Wie hat sich das Ganze inzwischen – auch in Bezug auf die Anzahl Mitglieder – entwickelt?
Das Ziel von OstSinn war von Anfang an klar: Menschen mit Ideen zum Thema Nachhaltigkeit zu begleiten und sie zu unterstützen. Das reine Betreiben eines Coworkig Space war nicht das Kernziel, weshalb man diesen unterdessen abgegeben hat.
Zu Beginn setzte sich die Mitglieder vorwiegend aus Bekannten, Freundinnen und Freunden, Familie und Coworking-Nutzerinnen und -Nutzern zusammen. Unterdessen hat sich das gewandelt. Unsere Mitglieder möchten das Thema Nachhaltigkeit unterstützen, sei dies mit Ideen oder finanziell. OstSinn ist zudem eine gute Plattform, um sich über Projekte und Neuigkeiten rund ums Thema Nachhaltigkeit in der Ostschweiz auf dem Laufenden zu halten.
Wir werden heute monatlich mit vielen Anfragen, vorwiegend per E-Mail, kontaktiert.
Im Bereich der Freiwilligenarbeit stellen wir einen erfreulichen Wandel fest: waren es früher vor allem freiwillige Helferinnen und Helfer aus dem Bekanntenkreis, sind heute viel mehr Menschen bereit, persönliche Ressourcen für das Thema Nachhaltigkeit zur Verfügung zu stellen.
Sprechen wir über die eingangs genannten Zukunftsmacherinnen und -macher. Was ist ein typisches Beispiel hierfür?
Der Grossteil der Zukunftsmacherinnen und -macher sind Personen aus der Zivilgesellschaft, die in ihrem privaten Wirkungsbereich schon nachhaltig leben (Ernährung, Transport, Konsum und Energie), ihre Arbeitsstelle ggf. wenig direkten Bezug zur Nachhaltigkeit hat und sie dennoch mehr machen wollen. Diese Personen nutzen ihre privaten Ressourcen für ein freiwilliges Engagement in einem Verein, Projekt oder einer Organisation. Dadurch können sie sich gezielt aufgrund ihrer Motivationen und Interessen engagieren. Menschen, die sich beispielsweise aktiv gegen Food Waste einsetzen möchten, melden sich als Mitglied oder als Helfer bei der RestEssbar. Personen, denen die Biodiversität am Herzen liegt, engagieren sich in freiwilligen Natureinsätzen und solche Helfer, die vor allem für soziale Themen brennen, engagieren sich in Vereinen, die sich für die soziale Gerechtigkeit einsetzen.
Wer noch einen Schritt weiter gehen möchte, startet ein eigenes Projekt mit Bezug zur Nachhaltigkeit, beispielsweise die Saatguttauschbörse «Saat Gallen» oder einen genossenschaftlich organisierten Laden wie in Lichtensteig mit dem «Paradiesli».
Wann und in welcher Form kann Ihr Verein unterstützend mitwirken?
OstSinn wirkt aktuell vor allem in zwei Bereichen: einerseits im Freiwilligen-Matching wobei wir Freiwillige bei der Vermittlung des passenden Vereins unterstützen. Andererseits in der Projektbegleitung. Dort helfen wir Menschen, die ihre eigene Initiative starten möchten, bei der Umsetzung, indem wir Kontakte vermitteln und Projektziele definieren. Weiter stehen wir auch bei Herausforderungen in verschiedenen Projektschritten unterstützend und beratend zu Seite. Diese Unterstützungsarbeiten wirken sich positiv auf die Ausdauer und Motivation aus, welche zur Realisierung solcher Projekte nötig sind.
In der Zukunft möchten wir uns vermehrt auch auf Unternehmen fokussieren. Unternehmen haben eine grosse Hebelwirkung, derer sie sich teilweise noch nicht bewusst sind.
Sobald das Bewusstsein vorhanden ist, muss das Thema Nachhaltigkeit in die Unternehmensstrategie eingebunden und in der Geschäftsleitung verankert werden. Danach erfolgt eine klassische Analyse: Wo sind die Hebelwirkungen in unserem Unternehmen? Hier gilt es gezielt anzusetzen und Massnahmen zu definieren. Eine Eigenheit der Nachhaltigkeitsthematik: Es ist kein reines «top-down-Vorgehen». Bereits zu Beginn der Strategieentwicklung, spätestens in der Realisierungsphase, sollten interessierte und betroffene Mitarbeitende involviert werden und unter anderem als Mittreibende des Prozesses mitwirken.
Hier können wir von OstSinn aus eigener Erfahrung berichten, zu wie viel Engagement Menschen bereit sind, wenn sie sich für ihre Leidenschaft einsetzen dürfen. OstSinn begleitet solche Prozesse von der Strategieentwicklung bis zur Moderation von Arbeitsgruppen und deren Zusammensetzung.
Um die Dimension abschätzen zu können: von wie vielen Projekten jährlich reden wir hierbei ungefähr?
Insgesamt ist die Zahl der laufenden Projekte im Raum Ostschweiz schwierig einzuschätzen, da der Verein OstSinn nicht jedes Projekt kennt. Im Jahr 2021 hat OstSinn ca. 20 Projekte in irgendeiner Form unterstützt.
Welche weiteren Tätigkeiten übernimmt der Verein?
OstSinn verfügt über eine Webseite, wo alle ihre Initiativen oder Veranstaltungen eintragen können. Alle zwei Monate veröffentlichen wir einen Newsletter, der über OstSinn, laufende Projekte und Neuigkeiten aus dem Netzwerk informiert. Darüber hinaus sind auch die kommenden und regelmässigen Veranstaltungen in der Ostschweiz aufgeführt. Zudem sind wir auf Instagram und LinkedIn sowie Facebook präsent.
Das Netzwerk lebt jedoch auch vom physischen Teil, der ebenso wichtig ist: Jeden zweiten Monat findet ein Stammtisch im Benevolpark statt sowie immer am zweiten Dienstag im Monat über Mittag ein Nachhaltigkeitslunch. Beide Veranstaltungen sind offen für alle und ohne Anmeldung oder vordefiniertes Thema. Alle 3-4 Monate gibt es zudem einen nachhaltigen Lesezirkel. Hier ist eine Anmeldung nötig.
Auf der Webseite ist als ein Missionspunkt aufgeführt, dass man «Wissen zu enkeltauglichen Arbeits- und Lebenssstilen» vermitteln möchte. Was genau muss man sich darunter vorstellen?
Die Wissensvermittlung hat zwei unterschiedliche Dimensionen:
Einerseits geht es um Aufklärung des Begriffs «Nachhaltigkeit», der nicht nur den klassischen Bereich der Ökologie umfasst, sondern auch den sozialen und wirtschaftlichen Bereich. Andererseits verfügen die aktiven Mitglieder von OstSinn über unterschiedliche inhaltliche Expertisen (sozialer Zusammenhalt, Energie, Elektromobilität, Integration und Finanzen) und methodische Expertisen (partizipative Prozesse, Moderation, Integrationsprozess, Organisationsentwicklung und Design Thinking). Wer aktiv im Verein ist, erklärt sich bereit, sein/ihr Wissen mit anderen zu teilen und alle Karten auf Kooperation statt auf Konkurrenz zu setzen.
Text: Marcel Baumgartner, Clara Esteve in Partnerschaft mit "Die Ostschweiz"
https://www.dieostschweiz.ch/artikel/insgesamt-befindet-sich-die-ostschweiz-im-mittelfeld-OQmlWQN